dunkler Hintergrund
Rote Zacken Schriftzug Weiß rotem Hintergrund Einleitung zum Theaterstück Der Mörder hat so eine kleine Gopro Kamera mitgebracht, hat ihm das ein Orakel geweissagt, dass er daran gedacht hat, die Kamera mitzubringen? Per Video aufnehmen und über das Internet verschicken. - Wut, Elfriede Jelinek

„Hey, my name is Anon. I think the holocaust never happened.” Hastig und mit deutschem Akzent spricht der junge Mann in die an seinem Helm befestigte GoPro. In einem Live-Video wendet sich der 27-jährige Hallenser an die Gamer-Community der Internetplattform Twitch, eines internationalen Live-Streaming-Videoportals, das vorrangig zur Übertragung und Kommentierung von Videospielen genutzt wird. „Feminism is the cause of decline in birth rates in the West,” fährt er fort, fügt die Masseneinwanderung hinzu und endet in der Conclusio: „The root of all these problems is the Jew.” Mit diesen Worten und einem Auto voller Waffen beginnt er seinen Kreuzzug gegen die jüdische Weltverschwörung. Wichtiges Element seiner Ausrüstung ist die Kamera, die das Geschehen in Echtzeit ins Internet überträgt. Das Ziel ist die Synagoge in Halle, in der über 50 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, den Tag der Versöhnung, feiern. Zum Glück verhindert die gesicherte Tür der Synagoge ein Blutbad. Den vergeblichen Versuch, sich einen Zutritt in das Gotteshaus zu sprengen, kommentiert der Terrorist in die Kamera mit den Worten: „I am a loser.“ Frustriert schießt er einer Passantin in den Rücken, überfällt einen Dönerladen und tötet dort einen wehrlosen Kunden. In der klassischen Perspektive der Ego-Shooter-Videospiele zeichnet die Helmkamera die Morde auf. Nach 36 Minuten bricht das Video ab. Fünf Menschen verfolgen das Geschehen in Echtzeit, 2200 rufen das Video ab, bevor die Plattform Twitch es zensiert. Zeitgleich erscheint im Internet ein zusammengeschustertes Manifest aus rechtsradikalen und antisemitischen Theorien, das seine Taten ideologisch untermauert. Die Parallelen zu der Bluttat am 15. März 2019 in Christchurch, Neuseeland, stechen ins Auge. Auch dort streamt der Täter sein Massaker, dem 51 Menschen in einer Moschee zum Opfer fallen, live auf Facebook: Über 4000 Menschen verfolgen das Morden auf Facebook, bevor es gelöscht wird. Innerhalb der ersten 24 Stunden erkennt die Facebook-Software 1,5 Millionen Kopien des Tätervideos. 1,2 Millionen löscht sie Minuten später, doch der Kampf gegen die Proliferation der Bilder geht verloren. Das Manifest, das der Killer zeitgleich ins Internet stellt, ist ein Copy and Paste-Konvolut, entnommen aus Verschwörungsbestseller des rechtsautoritären Internet-Kosmos. Sein Titel DER GROSSE AUSTAUSCH ist aus dem Buch REVOLTE GEGEN DEN GROSSEN AUSTAUSCH des französischen Rassisten Renaud Camus entlehnt: Es schildert die angebliche Verschwörung des „Weltjudentum gegen die weiße Rasse“, die mittels Bevölkerungsaustauschs Europa islamisieren soll. Noch heute sind beide Videos in Gänze auf rechten Internetplattformen abrufbar. Einzelne Ausschnitte findet man jederzeit in den Archiven der Mainstream-Medien.

In ihrem Stück WUT von 2015 nimmt die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nahezu prophetisch die Bluttaten von Christchurch und Halle vorweg. An- und aufgeregt von den furchtbaren Terroranschlägen in Paris auf das Satiremagazin Charlie Hebdo sowie einen jüdischen Supermarkt setzt sie sich mit der Thematik „Terrorismus und neue Technologien“ auseinander. Am 9. Januar 2015 erschießt in Paris ein islamistischer Terrorist vier Juden in dem koscheren Supermarkt Hyper Cacher. Der Täter filmt seine Morde und versucht sie über das Internet zu verbreiten. Er will mit seinen Taten für die ganze Welt sichtbar sein. In ihrem Text WUT stellt Elfriede Jelinek die Frage: „Was ist der Mensch? Was ist ein Mensch gegen sein Bild! Wir verlieren dadurch nichts, dass wir es später online stellen, im Gegenteil, wir verdoppeln uns sogar. Wir werden, wenn wir Glück haben, Millionen! Das Bild bleibt ja, das Bild ist im Grunde ewig, denn das Netz verliert nichts.“ Die Macht und Symbolhaftigkeit der Bilder haben der Islamische Staat und andere extremistische Gruppierungen längst für sich erkannt und mittels Internet und sozialer Medien effizient genutzt. Bilder und Videos von Hinrichtungen, von blutüberströmten Leichen und von mit Waffen posierenden Tätern erzeugen – als Grundelement des Terrors – Narrative der Abschreckung und Angst, aber auch der Überlegenheit und Faszination. Gewalt ist in unserer Gesellschaft zwar verboten und tabuisiert, die Darstellung von Gewalt ist jedoch in der alltäglichen Medienkultur – Fernsehen, Tagesmedien, Filmindustrie, Netflix, Internet – omnipräsent. Unter dem Titel Theatre of Horror schreibt der israelische Historiker Yuval Noah Harari 2015 für den Guardian: „Terroristen denken nicht wie Armeegenerale; sie denken wie Theaterproduzenten.“ Die Medien bilden das Theater, das die von den Terroristen verfassten Stücke inszeniert und die Tickets für die Vorstellungen verkauft. Die Öffentlichkeit, sich das Schauspiel ansehend, fordert lautstark Politiker auf, die Bühne zu betreten und ihre Rolle darin zu spielen. Unwissend folgen sie damit genau dem Handlungsstrang des Drehbuchs der Terroristen. In ihrem neuen Buch Radikalisierungsmaschinen untersucht die Extremismusforscherin Julia Ebner, wie islamistische Extremisten und Rechtextremisten neueste Technologien nutzen, um uns zu manipulieren und ihr rückwärtsgewandtes Gesellschaftsmodell durchzusetzen: „Ihre Vorstellungen von Gesellschaft, Kultur und Regierungsform sind radikal gestrig. Doch ihre Ansätze, diese Vorstellungen umzusetzen, sind radikal zukunftsorientiert. Dieses Paradox ist es, das aus extremistischen Bewegungen heute mächtige Gegenkulturen und effektive Radikalisierungsmaschinen gemacht hat.“

Rote Zacken
Rote Zacken

In ihrem 114-seitigen Wut-Epos lässt Elfriede Jelinek eben diese Stimmen erklingen und erzeugt einen kollektiven wütenden Echoraum, der erschreckend genau unser heutiges Zeitgefühl beschreibt: Die zornigen Stimmen der Dschihadisten und anderer Gotteskrieger, die aufgeheizten Parolen der Wutbürger, Pegidisten und AfDler, die Hasskommentare der Shitstormer und Hater, die durch die Medien und Internetplattformen geistern, mischen sich mit den Mordaufrufen der Schlächter aus dem Völkermord in Ruanda. Ihre Narrative sind diametral entgegengesetzt und doch austauschbar: Es ist eine „Wir gegen die“-Haltung, nur Opfer und Täter sind vertauscht. Aber das Resultat ist das gleiche: Beide Narrative münden in demselben Metanarrativ von einem unausweichlichen Krieg zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Ihrer eigenen Wut darüber verleiht die Autorin selbst auch eine Stimme: Ihre Wut auf die Täter, die Terroristen, die Wut- und Hasstreiber, die Demagogen und Populisten dieser Welt sowie auf die eigene Ohnmacht angesichts all des Terrors. Sie lässt die Toten und Opfer zu Wort kommen und gemeinsam mit ihnen stellt sie die Frage: „Wo fasste uns das Wüten?“ In ihrer Suche nach dem Ursprung geht Elfriede Jelinek weit zurück in die menschliche Vergangenheit. In der griechischen Antike stößt die Autorin auf den beunruhigenden Theatertext DER RASENDE HERAKLES von Euripides aus dem Jahre 416 v. Chr. Es ist die Geschichte einer Gewaltpsychose und die Erzählung vom unberechenbaren Funkenschlag, der die rasende Wut entzündet. Nach Vollendung seiner zwölf Heldentaten empfängt die Familie glücklich den heimgekehrten Herakles. Doch diesen befällt am Altar ein Wahn, der ihm seine Familie als die wiedererweckten Feinde erscheinen lässt. Entbrannt von einer plötzlichen Mordwut erschlägt Herakles seine Frau und seine eigenen Kinder. Euripides zeigt die Bluttat nicht auf der Bühne, sondern er verpackt sie in einen Botenbericht: Fassungslos berichtet Amphitryon über den unbegreiflichen Amoklauf seines Ziehsohnes und versucht dabei selbst, das Unfassbare zu verstehen. Dieser dramatische Kunstgriff steht in der Tradition der Aufführungspraxis des Antiken Theater, das nie die Gewalttat selbst auf die Bühne brachte, sondern sie dem Publikum durch einen Boten schilderte. Elfriede Jelinek eignet sich das literarische Stilmittel an. Sie zeigt in ihren Stücken nie das Geschehen selbst, sondern es handelt sich immer um eine diskursive Verarbeitung des Geschehens.

Hier setzt die Inszenierung WUT von Hermann Schmidt-Rahmer an: Auf der Bühne steht ein Container, in dem Herakles wie in der antiken Aufführungspraxis zum Morden verschwindet, aber er hat eine Kamera dabei, die sein Handeln nach außen überträgt und die Bilder in Großformat auf die Bühne projiziert. Der Zuschauer wird mit der Allgegenwärtigkeit der Bilder konfrontiert, sie sind überall, sie sind viral und ansteckend. In der Freiburger Inszenierung muss der Anti-Held Herakles immer wieder auftreten und morden: Im antiken Gewand mit Keule, im Gewand des Dschihadisten mit Kalaschnikow, im Gewand des Rechtsterroristen mit selbstgebauter Waffe und GoPro Kamera. Der Schauspieler muss die Tat solange nachspielen, bis er weder Lust und noch Kraft hat. Heiner Müller nennt dies die 13. Tat des Herakles. Das Unheil muss auf dem Theater solange wiederholt werden, bis dieses Unheil müde wird. Theater, sagt er, stellt Erzählbarkeit her und hat die Aufgabe, die Toten zu begraben. Mit den Worten von Elfriede Jelinek ausgedrückt: „Man muss sich um die Opfer und Toten kümmern.“

Laura Ellersdorfer

Rote Zacken