dunkler Hintergrund
In der Gegenwart

In den Konzertprogrammen des Philharmonischen Orchesters finden sich immer wieder Entdeckungen, Musik, die man andernorts nicht so schnell findet. Herr Bollon, Sie wählen immer wieder Programmschwerpunkte mit Kompositionen abseits des Gängigen. Warum?

Die Musik und ihr Ausdrucksspektrum sind sehr breit. Dabei gibt es viele Werke, die ungerechter Weise zu wenig gespielt werden. Große Meisterwerke bleiben natürlich große Meisterwerke. Gustav Mahler zum Beispiel ist eindeutig ein großer Komponist, aber es gibt eben auch die anderen, die man nicht so kennt. So hat beispielsweise Alexander Zemlinsky gute Orchesterwerke geschrieben. Unsere Funktion ist es, Wertigkeiten zu beleuchten und Komponisten nebeneinander zu stellen. Dazu gehört unter anderem auch Albéric Magnard, mit dessen Musik wir uns in der vergangenen Zeit beschäftigt und dessen Symphonien wir eingespielt haben.


Es ist Ihnen wichtig, Werke zu beleuchten, die im Musikleben ein Schattendasein fristen?

Ja, unbedingt. Wir leben in einer Zeit, in der man anhalten und sich umschauen muss. Diese Zeit ist unglaublich schnell und geprägt von dem „rote Königin-Syndrom“. Diese „Red-queen-Hypothese“ bezieht sich auf ALICE HINTER DEN SPIEGELN, der Fortsetzung von ALICE IM WUNDERLAND. Darin tritt die Figur der „roten Königin“ auf, die Alice erklärt, dass man so schnell rennen muss wie man kann, um in diesem Land zu überleben. Doch entdeckt Alice, dass sie immer am selben Ort bleibt. Unsere Zeit leidet genau an diesem „rote Königin-Syndrom“: Wir rennen in einem fort, und merken nicht, wie viel wir damit vernichten. Wir Künstler können dazu einen kleinen Gegenakzent setzen und allen sagen: „Seid neugierig, haltet still und seht euch um“. Ich verstehe es als meine Künstleraufgabe, den zum Teil verborgenen musikalischen Reichtum zu zeigen. Es geht darum, die Geschwindigkeit zu drosseln und mehr Breite als Vertikalität zu erleben, weniger Schnelligkeit, möchte ich sagen. Wir leben in der Gegenwart, die in der Vergangenheit fußt, aber nicht in der Zukunft. Die Zukunft kommt von ganz alleine und im Konzert möchte ich sagen: „Öffnet die Augen, die Ohren, seid neugierig!“


Sie haben sich umgeschaut und für diese Saison 2019/20 einen Schwerpunkt mit der Musik von Erich Wolfgang Korngold ausgesucht?

Ja und Korngold war auch so viel mehr als nur Filmmusikkomponist. Er hat vieles komponiert, darunter z.B. auch die Symphonie, die wir im ersten Konzert dieser Saison aufgeführt haben. Korngold war Opernkomponist und hat seine allererste Oper mit 17 Jahren geschrieben. Wir hatten ja mit großem Erfolg in den vergangenen Saisons seine DIE TOTE STADT und DAS WUNDER DER HELIANE bereits im Programm. Im Neujahrskonzert wenden wir uns der leichteren Musik von ihm zu. Korngold hat als junger Mann große sinnliche Musik geschrieben und bekennt sich zum Hedonismus. Später, zum Beispiel in seiner Symphonie, war das anders. Er spannt einen großen Bogen über das 20. Jahrhundert und kommt in der Moderne an.


Was fasziniert Sie an Korngold, was ist für Sie das Besondere an diesem Komponisten?

Seine Abseitsstellung. Korngold war ein sehr begabter, origineller Komponist. Seine Biographie hat ihn zu der verpönten Stellung geführt, die er bis heute einnimmt, nämlich als Filmmusikkomponist abgestempelt – und auch gering geschätzt zu werden. Dabei ist es alles andere als einfach, für den Film zu schreiben. (Strawinsky und Schönberg beispielsweise sind gescheitert am Film.) Korngold hat Filmmusik wie Musik für die Oper konzipiert und wenn er weiter Opern hätte schreiben können, wäre er vermutlich der Verdi des 20. Jahrhunderts geworden! Aber so hat er sein Opernkönnen in den Dienst des Films gestellt. Dabei muss man bedenken, dass die Oper lange die Rolle gespielt hat, die heute der Film eingenommen hat. Opernkomponisten haben sozusagen so etwas wie Filme im Kopf gehabt und auch sehr oft klare Regieanweisungen in die Partituren eingefügt. Italien ist nicht umsonst DAS Land der Oper gewesen und auch eines der wichtigen Filmländer.



Korngold hat mit seinen Kompositionen eine neue Dimension in das Genre der Filmmusik eingeführt…

… ja, in seiner Musik erzählt Korngold, was hinter dem Geschehen versteckt ist. Das Subjektive, das Nicht-Gesagte ist das, was ihn interessiert. Alle tollen Filmkomponisten wären ohne Korngold nicht das, was sie jetzt sind: John Williams beispielsweise ist quasi der „Korngold 2“. Filmmusik ist zwar funktionelle Musik, gute Oper ist aber auch in vielen Teilen funktionelle Musik. Korngold weiß ganz genau um das Spiel von Spannung und Entspannung in der Musik und seine Filmmusik ist von der Sprache her nicht retrograd, sondern Musik seiner Zeit. Sie ist nah an Schostakowitsch, hat Anklänge an Messiaen und scheut sich gleichzeitig nicht, zugänglich zu sein. Generell finde ich, ein Komponist soll sich nicht anbiedern, muss aber verständlich sein. Es geht vor allem darum, mit den Mitmenschen zu kommunizieren, auch und gerade in der Musik richten wir uns doch an ein Gegenüber, dem wir Welten eröffnen wollen. Schon bei Mozart findet sich diese Thematik. „Ich bin jetzt sehr populär“, schrieb er an seinen Vater und schilderte, dass die Leute in Prag nach der Uraufführung seines FIGARO auf der Straße jetzt seine Melodien pfiffen. (Dabei musste er sich durchaus auch den Vorwurf der Zeitgenossen gefallen lassen, seine Musik sei „zu komplex“.)


Was bedeutet es für Sie als Komponist, in diesem Jahrhundert zu leben und zu schaffen?

Es geht darum, Fuß zu fassen in der Zeit, in der man lebt. Als Komponist versuche ich, die verschiedenen Sprachen unserer Zeit in meine eigene Sprache zu integrieren, die Vergangenheit aber nicht abzuschneiden: Wagner beispielsweise war der Meinung, etwas ganz Neues zu schaffen, aber auch bei ihm merkt man Einflüsse. Sprache funktioniert dann nicht mehr richtig, ist vielleicht sogar tot, wenn sie nicht in der Lage ist, sich mit anderen Stilen und Sprachen zu reiben, gar sie mit einzuschließen. Wir haben eine Kultur mit viel Vergangenheit, einer Gegenwart, die bunt ist. Ein Komponist soll seinen eigenen Stil entwickeln, daran arbeite ich. Diese Haltung finde ich bei einem der größten Musiker des 20. Jahrhunderts: Miles Davis. Aber: eine solche Haltung verlangt vom Komponisten ein solides Handwerk. Als Komponist kann man nicht so tun, als hätte es die 70er und 80er Jahre, die sogenannte Avantgarde, nicht gegeben. Aber man kann als Komponist darauf reagieren und sich aus der Musikgeschichte wie mit verschiedenen Zutaten nähren.


Verraten Sie uns noch, woran Sie derzeit als Komponist arbeiten?

Derzeit schreibe ich an einer Oper zu Erasmus von Rotterdam mit Bezug zu Freiburg, und bearbeite darin auch Renaissance-Musik, integriere sie. Erasmus war eine Ausnahmeerscheinung, jemand, der seine Zeit formte, und selber von den Geschehnissen überrollt wurde. Ein sehr aktuelles Thema: wie überlebt die Vernunft in Zeiten von gesellschaftlicher Spaltung. Auch „Erasmus von Rotterdam“ wurde von der „Roten Königin“ überrollt…


Herzlichen Dank für das interessante Gespräch, Herr Bollon.


Das Interview führte Konzertdramaturgin Helga Maria Craubner

Fotos: Britt Schilling