Hintergrund
Menschen beobachten eine Frau Mann sitzt am Tisch Einleitung Ein Fragekatalog zu einer Geschichte mit Untiefen von Heiko Voss Die Geschichte wird es an den Tag bringen

„Es übersteigt einfach alles. Nichts, was mir bekannt ist, reicht an es heran.“ – „An äußerstem Schrecken?“ – „An schaurigem – Grauen! An unheimlicher Grässlichkeit, an Grauen und Qual.“ Die Ankündigung des Erzählers könnte drastischer kaum sein: Ein Achtungszeichen an alle Zuhörenden! Die Geschichte, die gleich erklingen wird, ist abgründiger als alles, was den Lebenden jemals zu Ohren gekommen ist! Sie handelt von…? Ja… wovon handelt die Geschichte eigentlich?

Ohne es explizit auszusprechen, verweisen schon die einleitenden Worte auf das Prinzip des Erzählens in Henry James’ Novelle THE TURN OF THE SCREW: Ja, es wird eine ganz konkrete Geschichte erzählt, die noch dazu auf der Niederschrift einer direkt betroffenen Person beruht – die Geschichte einer jungen, unerfahrenen Gouvernante, die sich auf dem bilderbuchhaften Landsitz Bly der Erziehung und dem Wohlergehen der elternlosen Kinder Flora und Miles annehmen soll. Doch von dieser Geschichte wird mehr zu erfahren sein, als was den Lebenden unmittelbar ins Auge springt. Die Dinge liegen im Verborgenen. Sind die kleinen, engelhaften Wesen tatsächlich so unbeschwert und unbedarft wie sie auf den ersten Blick erscheinen? Oder gibt es da etwas, wovon wir nicht einmal die leiseste Ahnung haben? Anzeichen von Übernatürlichem? Von sexuellen Verfehlungen, von der Herrschaft des Verbotenen, vom Untergang der Geborgenheit, von der Faszination am Abgrund, von Macht, Gewalt und Missbrauch? Gab es in der Vergangenheit Übergriffe, ausgeübt durch ehemalige Bedienstete, von denen man sich keine Vorstellung macht? Und ragt die Tragweite dieser Taten bis weit in die Gegenwart von Bly? Das Grauen, das der Erzähler ankündigt, besteht vor allem darin, dass es nicht festzumachen ist, dass es nicht benannt und damit nicht in die Realität der Erzählung überführt werden kann. Dennoch oder gerade deshalb ist es bereits mit den ersten Sätzen omnipräsent. In dieser Geschichte existiert etwas, das es nach rationalen Gesichtspunkten nicht gibt. Nicht geben kann. Und dennoch ist es da. Ebenso wie der Tod. Für die Lebenden ist die Geschichte eine Horrorgeschichte.

Alle Annahmen, alle Befürchtungen beruhen allein auf Momenten des bloßen Verdachts – auf Verdachtsmomenten, die sich verdichten, entkräften und wieder neu zusammenziehen. Sorgsam sind sie in die Erzählung gestreut und entfalten nach und nach ihre bedrohlich-unaufhaltsame Wirkung. Doch sie zielen nicht in dieselbe Richtung. Ambiguität und Vieldeutigkeit sind die Kennzeichen der Erzählung THE TURN OF THE SCREW. Eine Deutungshoheit wird regelrecht verweigert. Immer wieder widersprechen sich die feinsäuberlich zusammengetragenen Indizien, um wieder eine gänzlich neue Richtung vorzugeben. Sicheren Grund und Boden wird man auf ganz Bly vergeblich suchen.

Henry Jamesʼ Novelle ist eine der vieldeutigsten Erzählungen der Literaturgeschichte. Bis in die letzten Verästelungen der Geschichte existiert eine Vielzahl an Interpretationen, von denen jede möglich ist, jedoch keine als gesichert gelten darf. Dies beruht auf der meisterhaften literarischen Komposition der Novelle von Henry James, für die Britten größte Bewunderung empfunden hat. Für die Bühnenadaption haben der Komponist und seine Librettistin Myfanwy Piper die Vieldeutigkeit der Geistergeschichte nicht angetastet, sondern lediglich Veränderungen nach den spezifischen Erfordernissen der Theaterbühne vorgenommen. Keine Antworten! – so die Devise von Britten und Piper. Entstanden ist ein ebenso meisterhaft komponiertes Musiktheaterwerk, das der schillernden Faszinationskraft der literarischen Vorlage in nichts nachsteht. Und so ergibt sich der seltene Fall, dass sich trotz zahlreicher Änderungen in der Werkgestalt das Interpretationsfeld zwischen Vorlage und Bühnenumsetzung kaum verändert hat, dass die Interpretationsmöglichkeiten, die man für die Novelle formuliert, auch auf das Musiktheater anzuwenden sind und umgekehrt.

Eine ganz grundlegende Veränderung gibt es aber doch: Britten und Piper geben den eigentlich wortlosen Geistererscheinungen eine eigene musikalische Sprache und damit eine sinnlich erfahrbare Ausdrucksfähigkeit, die ihnen in der Novelle nicht zukommt. Selbstredend ist es für den Komponisten von großem Reiz, gerade die übernatürlichen Figuren mit einer spezifisch musikalischen Sprache auszustatten – und wo könnten die faszinierend-verführerischen Untoten die Sinne ihrer menschlichen Umgebung besser benebeln als auf dem musikalischen Theater? Es bleibt dennoch zu untersuchen, ob diese Veränderung es vermag, ein wenig mehr Deutbarkeit in eine undeutliche Geschichte hineinzugeben.

Unter den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der Novelle wie der Oper schälen sich bei genauerem Hinsehen drei Hauptstränge (I, II, III) heraus. Die Stoßrichtung der Lesart macht sich dabei grundsätzlich am Realitätsgehalt der Geistererscheinungen fest: Sind die Geister lediglich Einbildungen und Projektionen einer oder mehrerer Figuren oder sind sie für die gegenständliche Welt der Figuren tatsächlich existent? Anders formuliert: Sind die Geister ein Teil der Bühnenrealität oder nicht? Gibt es die Geister wirklich oder sind sie bloße Einbildung?

Mann und Frau im Bett
Frau verdeckt sich mit ihrer Bettdecke
Zwei Frauen im Hausflur
Zwei Frauen unterhalten sich
Frau redet mit einem Jungen

I.
Die Geister gibt es nur im Kopf der Gouvernante. Die Geister sind nicht für alle Figuren gleichermaßen existent, sondern lediglich für eine einzige Figur, von der sie imaginiert werden. Unter diesen Vorzeichen nehmen wir die Perspektive der Gouvernante ein, die einen psychotischen Prozess durchläuft, dessen Folge u. a. die eingebildeten Geister sind. Die Geschichte wird damit zu einer psychopathologische Studie über das Fortschreiten eines Wahns, für dessen Herkunft es zahlreiche Hinweise gibt: Beunruhigende Angstzustände und Zweifel an der eigenen Befähigung begleiten die junge Frau schon vor Antritt ihrer Stelle als Erzieherin. Die subjektiv empfundene Überforderung kann jedoch auch auf eine grundsätzliche psychische Labilität zurückgeführt werden, die immer wieder zwischen den Zeilen aufscheint. Als jüngste Tochter eines Landpfarrers hat sie im ausgehenden 19. Jahrhundert eine streng puritanische und damit streng überwachte Erziehung wohl am eigenen Leibe erfahren. Überhaupt deuten einige Andeutungen über das Elternhaus darauf hin, dass ihr Selbstwertgefühl und -bild von einer übergroßen Strenge an einer gesunden Ausformung gehindert wurde. In der Tat werden wir immer wieder Zeuge von hysterischen Überreaktionen – oftmals verbunden mit der Ausübung eines sorgsam gedeckelten Gewalt- oder Machtgebarens. Nicht minder erweckt die Erzieherin zuweilen den Eindruck, dass in ihr versteckte Neigungen oder gar Obsessionen schlummern. Was hat es also mit den Geistern auf sich, die in ihrer Vorstellung eine überlebensgroße Gefahr für die beiden Kinder bilden? Woher rührt die immense Angst, dass sich ehemalige, längst verstorbene Bezugspersonen zu Untoten manifestieren? Dass sie eine übergroße Nähe zu den Kindern herstellen, die sie nicht kontrollieren kann? Warum sucht sie selbst immer wieder die natürliche Distanz in den Beziehungen aufzulösen? Existiert auch ihrerseits eine unbewusste sexuelle Zuneigung für die Kinder? Speziell für den kleinen Miles? Sind die Geister Projektionen infolge der eigenen, unterdrückten Sexualität? War es der Londoner Onkel der Kinder, der das sexuelle Begehren der jungen Frau in Gang gesetzt und sie damit vollständig aus dem inneren Gleichgewicht gebracht hat? Hat sie sich vielleicht zum ersten Mal verliebt und wird von diesem Gefühl völlig unvorbereitet aus der Bahn gerissen? Steigert sie sich in die Erziehungs-Aufgabe allzu sehr hinein, um eine falsch verstandene Nähe zum Onkel herzustellen? Oder war sie selbst Opfer sexueller Gewalt, die zu einer Art Wiederholungszwang geführt hat – zu einem Wiederholungszwang im permanenten Sehen vermeintlicher sexueller Übergriffe? In diesem Falle wäre es gut möglich, dass die mutmaßlichen Taten der beiden ehemaligen Bediensteten und jetzigen Geistererscheinungen Peter Quint und Miss Jessel niemals verübt worden sind, auch wenn die voreingenommene Haushälterin Mrs. Grose noch so sehr davon überzeugt ist. Vielmehr liegt die tatsächliche Gewaltausübung gegen die Kinder dann nicht in der Vergangenheit und findet auch nicht durch geisterhafte Verkörperungen des Bösen statt, sondern geht von einer ganz realen und sehr präsenten Person aus: der Gouvernante selbst, die mit der Paranoia und den Wahnvorstellungen einer überforderten, übersteuerten und übersensitiven jungen Frau die Kinder in Situationen des Ausgeliefertseins bringt, in der sie Gewalt von ihr erfahren.

Versagensangst in Kombination mit einem Gefühl der Minderwertigkeit lassen die Gouvernante zu einem unkalkulierbaren Risiko für ihre Schutzbefohlenen werden. Natürlich muss dahinter nicht zwangsläufig eine bösartige Absicht stehen. Viel schlimmer für die Kinder sind die guten Absichten der Erzieherin: „Ich war eine Schutzwand – ich sollte mich vor sie stellen. Je mehr ich sah, desto weniger würden sie sehen.“ Der Schutz der Kinder steht an erster Stelle, doch kann nur schützen, wer sich auch selbst schützen kann. Die Erzieherin verliert mehr und mehr die Kontrolle über das eigene Leben und entwickelt einen Überdruck, der sich über den Kindern entlädt. Ihr Fokus liegt dabei klar auf Miles. Von der Beziehung zu ihm erwartet sie sich eine Art Ausschließlichkeit: „Ich erinnere mich, dass ich vor allem Miles gegenüber die Überzeugung hegte, er habe sozusagen nicht einmal so etwas wie ein unendlich kleines Vorleben.“ Als sie der Geister gewahr wird, ist umgehend klar, auf wen sie es abgesehen haben: „Er [Quint] war wegen jemand anderem gekommen.“ Wegen Miles. Wegen Miles, diesem Faszinosum eines Jungen, von dem eine ausgewiesene erotisch aufgeladene Anziehungskraft für sie ausgeht. Sie schwärmt für ihn und bewundert seine Schönheit. Sieht er seinem Londoner Onkel ähnlich? Projiziert sie ihr unterdrücktes Begehren auf die Geistererscheinungen, um es weiter von sich wegzurücken? Indem sie es auslagert, wird es nur umso bedrohlicher. Sie hat Angst. Angst vor Quint. Und müsste eigentlich Angst vor sich selbst haben. Das Ergebnis für die Kinder ist dasselbe. Die Erwartungen der Gouvernante an die Kinder sind riesig. Und so kippt die Balance der Beziehungen in dem Maße, wie die Erzieherin nach der eigenen Deutungshoheit und Überlegenheit sucht. Das schlägt sich nicht zuletzt in bestständigen Versuchen des Vor- und Eindringens in die Intimsphäre der Kinder nieder – in der Absicht oder unter dem Vorwand, sie zu beschützen. Ein ungebremst-obsessives Verhalten ist deutlich, ein verdunkelt-pädophiles Begehren nicht auszuschließen. Alles, was sie in ihrem Wahn zu sehen glaubt, wird auf die Kinder übertragen: „Was immer ich auch gesehen hatte, Miles und Flora sahen mehr Fürchterliches und Unvorstellbares, das von grauenhaften Beziehungen früheren Umgangs herrührte.“ Mit einer Erzieherin in dieser Verfassung braucht es für die Kinder weder eine grauenvolle Vorgeschichte noch reale Geister. Ihre Horrorgeschichte speist sich allein aus der Anwesenheit einer labilen Bezugsperson. In dieser Lesart wird die Gouvernante selbst zum bösen Geist für die Kinder.

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II.
Zu einer völlig gegenläufigen Interpretation derselben Erzieherin gelangt man, wenn man der Annahme folgt, dass die Geistererscheinungen tatsächlich real sind und auf Bly ihr abgründiges Unwesen treiben: Die ehemaligen Täter kehren als dämonische Geister zurück und suchen ihre Opfer abermals auf – und das keineswegs in der Absicht, um mit sich und ihren Verfehlungen Frieden zu schließen. Allein der melismatisch-diabolische Tonfall Quints, den Britten mit seiner musikalischen Sprachgestaltung evoziert, zeigt auf, dass es sich hierbei um einen monströsen Verführer handelt: „Peter Quint, du Teufel.“ Von der Gouvernante am Ende gezwungen, den Namen seines geisterhaften Verbündeten auszusprechen, versieht der kleine Miles Quints Namen mit der Personifizierung des Bösen. Oder ist der Teufel-Zusatz als Anschuldigung an die Erzieherin gerichtet, die ihm das Leben zur Hölle gemacht hat?

Dass Quint zu Wort kommt, ist nur bei Britten der Fall. Es verstärkt seine Verführungskraft ungemein und präzisiert dessen Haltung gegenüber Miles: Zu Beginn des zweiten Aktes sprechen Quint und Jessel explizit über ihre Motive. „Ich suche einen Freund“, sagt Quint. Und als Jessel darauf hinweist, dass sie doch hier sei, reagiert er ungehalten: „Nein, mach dir nichts vor! Ich suche einen Freund, der mir gehorsam folgt. Ich werde seiner strahlenden Unterwürfigkeit die verzweifelten Leiden eines geschundenen Herzens erklären. Und genau dann wird es um die Unschuld geschehen sein.“ Spätestens hier ist klar, dass auch die ehemalige Erzieherin – von der Mrs. Grose einmal sagt, dass sie Quint bis zur Hörigkeit unterwürfig war (und ist?) –, dass auch Miss Jessel eine neue Vertrauensperson finden muss und will. Um deren Unschuld wird es ebenso geschehen sein. Britten und Piper greifen für den Dialog zwischen den Geistern auf ein Gedicht von William Butler Yeats zurück, aus dem sie eine Zeile über die „Zeremonie der verlorenen Unschuld“ entnehmen. Das Gedicht THE SECOND COMING verkündet die Apokalypse und das Desaster ewiger Verlorenheit. Die Zukunftsaussichten, die Quint für die Kinder aufmacht, sind ziemlich düster. Dass sich Miss Jessel seiner Formulierung anschließt, verwundert nicht weiter, dass in der Folge aber auch die Gouvernante von einer Unschuld spricht, die sie verdorben habe, lässt aufhorchen. Doch: Wenn Quint und Jessel in der Realität des Geschehens angekommen sind, haben ihre Anwesenheit und Taten selbstverständlich reale Auswirkungen für die Lebenden. Insbesondere für die Kinder. Dass Quint und Jessel ihre Verführungsabsichten unverhohlen artikulieren und dabei sinnlich ausgestalten, lässt sie umso gefährlicher erscheinen. Sie sind damit jedoch keinesfalls zu real, als dass sich eine Imagination der Figuren komplett ausschließen würde. Auch die stärksten Figuren können einem Wahn entspringen. Bei Britten werden sie greifbarer, sind beredt und werden dadurch in der Lesart als Emanationen des Bösen umso überzeugender: indem sich vor den Augen der namenlosen Gouvernante nach und nach ein namenloses Grauen entspinnt. Die Geschichte wird in dieser Lesart im Sinne ihres Untertitels bei Henry James als Geister- bzw. Horrorgeschichte rezipiert: Die Gouvernante kämpft gegen die Realität des Bösen – und verliert den Kampf gegen den Horror trotz eines geradezu heroisch zu nennenden Einsatzes. Der Horror wird freilich dadurch verstärkt, dass diese Lesart grundlegend auf dem Missbrauch der Kinder basiert. Die Leidtragenden sind einmal mehr die Kinder.

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III.
Die Kräfteverhältnisse lassen sich aber auch umkehren: Was, wenn die Kinder die Träger des Bösen sind? Nehmen wir die Perspektive der Kinder ein, die keinen Schritt ohne Aufsicht unternehmen können: Sie befinden sich unter ständiger Beobachtung, sind überbehütet, aber unterversorgt, was den so notwendigen Kontakt zu Gleichaltrigen betrifft. Als Miles registriert, dass er nicht mehr zurück ins Internat gehen wird, spricht er es offen aus: „Ich möchte meinesgleichen!“ – „Es gibt nicht viele deinesgleichen, Miles“, antwortet die Aufpasserin, „außer vielleicht die reizende kleine Flora.“ – „Sie vergleichen mich wahrhaftig mit einem kleinen Mädchen?“ – „Liebst du denn unsere goldige Flora nicht?“ – „Wenn ich Flora nicht lieb hätte – und auch Sie … wenn ich das nicht tun würde!“ Die Kinder ringen um einen winzigen Korridor der persönlichen Freiheit, der ihnen konsequent verweigert wird. Der Freiheitsdrang lässt die Kinder vielleicht tatsächlich zu harten Maßnahmen greifen, womit eine Verkehrung der Zuschreibungen von Schuld und Unschuld vorgenommen würde. Die Kinder wollen der Enge und der Beklemmung entkommen, sind den Erwachsenen jedoch ausgesetzt, noch dazu im eigenen Haus und 24 Stunden am Tag. Womöglich ist das Antrieb genug? Vielleicht waren sie in der Vergangenheit aber auch tatsächlich Gewalt und Missbrauch ausgeliefert? Haben wir es mit gefallenen Engeln zu tun, die so viel Böses hinnehmen mussten, dass sie sich selbst dem Bösen zugewandt bzw. sich haben vom Bösen vereinnahmen lassen? Reagiert ihre Aufseherin auf tatsächliche Vorkommnisse, die die Kinder gemeinsam mit den von ihnen evozierten Erscheinungen ausführen? Oder sind die Erscheinungen auch in diesem Fall Projektionen der Gouvernante, in denen sie die Problemstellungen von den Kindern abspaltet und personifiziert? Es gibt zahlreiche Textstellen, die man den Kindern auch negativ auslegen, zumindest als Machtspiele deuten kann: als Kräftemessen, das die Kinder mutwillig in Gang setzen. So beäugen sie ihre Erzieherin genau und konstatieren sofort, dass diese „geheult“ habe. Sie maßregeln sie mit stechenden Fragen, wo die „Ungezogene“ denn gewesen sei oder reizen sie mit Antworten wie dieser: „Wenn ich Ihnen sage, warum, werden Sie es dann verstehen?“ Man kann diese Antwort ebenso unschuldig wie feindselig interpretieren. Auf die simple Frage der Gouvernante, warum Miles in der Nacht das Haus verlassen habe, formuliert er es schließlich frei heraus: „Damit sie das jetzt tun würden.“ – „Was tun?“ – „Mich für böse halten!“ Die Kinder legen es förmlich darauf an, die Gutgläubigkeit der Erzieherin herauszufordern. Spielt Miles zudem mit seiner erwachenden, frühreifen Anziehungskraft? Bei Britten ist das Aufbegehren Milesʼ mit einer tiefen Traurigkeit gefärbt, die genuin musikalisch vermittelt wird. In der Latein-Stunde stimmt Miles ansatzlos das Malo-Lied an: Lieber wäre ich in einem Apfelbaum, als in diesem unglücklichen Leben zu Hause. Ein großes, melancholisches Ungleichgewicht beschwert das junge Leben. Die Erzieherin ist irritiert – und übernimmt das Lied doch unbewusst ins eigene Vokabular, stimmt dessen Töne gar am Ende selbst an, wenn sie den toten Miles in den Armen hält. Trotz äußerster Kraftaufwendung hat sie es nicht geschafft, den Jungen zu retten: Miles ist tot, seine Seele an das Böse verloren. Bis zum bitteren Ende kämpft die Gouvernante in dieser Lesart als Seelenretterin um die beiden Schutzbefohlenen. Betrachtet man die Kinder jedoch nicht als abstrakte Verkörperung des Bösen, stellt sich doch die Frage, worauf sie eigentlich reagiert? Auf freche Antworten? Auf mutige Ausbruchversuche? Auf offene Anfeindungen? Was ordnet sie dem Bereich des Bösen zu? Die Geister? Die Kinder? Die Andeutung aufkeimender Homosexualität? Die Lesart, bei der die Kinder als Emanation des Bösen heraufbeschworen werden, kann sich mit der ersten Lesart durchaus vermischen, wenn die Gouvernante normale Wortgefechte überbewertet, wenn sie natürliche Neigungen als abnormal verurteilt und damit vollkommen überreagiert – und damit die fixe Idee immer stärker wird, dass die Kinder in irgendeiner Weise schuldig seien. Sie kann aber auch mit der zweiten Lesart in Verbindung gebracht werden, etwa dann, wenn die Kinder des Bösen selbst mit den leuchtenden Augen der Untoten agieren. In beiden Fällen lebt das Böse in den Kindern – und doch kann man sich auch hier der Frage nicht verschließen, was diesen Kindern wiederfahren ist, damit sie zu dem geworden sind, was sie sind.

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palais ideal du facteur cheval
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„AUF DIESE EINSAMEN AUSEINANDERSETZUNGEN HIN REDETE ICH MEHR DENN JE DRAUFLOS UND MACHTE HINLÄNGLICH REDSELIG WEITER, BIS ES WIEDER EINMAL ZU DEM UNGEHEUERLICHEN, GERADEZU GREIFBAREN VERSTUMMEN VON UNS KAM –
ICH KANN ES NICHT ANDERS NENNEN –, DEM EIGENTÜMLICHEN SCHWINDELERREGENDEN EMPORGEHOBENWERDEN ODER HINTREIBEN (ICH SUCHE NACH WORTEN!) IN EINER STILLE, EIN AUSSETZEN ALLEN LEBENS, WAS NICHTS DAMIT ZU TUN HATTE, DASS WIR UNS GERADE JETZT VERANLASST FÜHLEN MOCHTEN, MEHR ODER WENIGER GERÄUSCHVOLL ZU SEIN, UND ICH KONNTE SIE DURCH DAS GANZE ÜBERSTEIGERTE LUSTIGSEIN ODER NEUBELEBTE DEKLAMIEREN ODER GRELLE KLIMPERN AUF DEM KLAVIER HINDURCH VERNEHMEN. DA GESCHAH ES DANN, DASS DIE ANDERN, DIE JENSEITIGEN, DA WAREN.“
(HENRY JAMES)

Der Fragenkatalog ist lang, die Opfer sind immer die Kinder – ungeschützt, in verheerendem Umfeld. Der letzte Blick richtet sich auf den demonstrativ abwesenden, ominösen Onkel, Auftraggeber der Gouvernante und mit der Fürsorgepflicht für die Kinder betraut. Alle sind sie von ihm abhängig: Flora, Miles, die Gouvernante, die Haushälterin. Die einen ertragen sein Desinteresse stoisch, die anderen ringen um seine Aufmerksamkeit. Nimmt man noch einmal die nötige Distanz und die (toten wie lebenden) Bewohner von Bly unter die Lupe, könnte sich fast der Eindruck aufdrängen, der namenlose Onkel veranstalte dort Experiment um Experiment, indem er auf das Landgut völlig ungeeignetes und labiles Personal schickt. Die Kinder sind dort psychischen wie physischen Übergriffen hilflos ausgesetzt, niemand sieht nach ihnen. Vielmehr wird weggesehen. Mrs. Grose hat sich – darf man ihren Äußerungen Glauben schenken – schon lange vor Beginn der eigentlichen Geschichte im Wegsehen geübt. Oder ist gerade sie es, die so genau hinsieht wie sonst niemand? Wie viel weiß sie über die tatsächlichen Vergehen? Wem hat sie davon erzählt? Mit wem tauscht sie sich aus? Wo besteht ein Interesse an kindlich-seelischem Leid? In der Anonymität des Dark Net? Ist das Geschehene dokumentiert? Von wem wird das Ganze gesteuert? Zugegeben: Die Fragen entfernen sich allmählich aus dem Schutzraum der Erzählung. Doch die Kinder sind auch nicht beschützt. Und die Fragen traurigerweise längst nicht abstrus genug, um sie einfach wegzuwischen. Der Sachverhalt ist alles andere als eindeutig. Und es ist besser, zu viele Fragen zu stellen als zu wenige:

Ein Fragezeichen für alle Zuhörenden! Die Geschichte, die gleich erklingen wird, ist zweifelhafter als alles, was den Lebenden jemals zu Ohren gekommen ist: „Die Geschichte wird es an den Tag bringen.“ Was? – die schaurigen Untiefen? Ja. Und die ersehnten Antworten? Werden sie von der Geschichte mitgeliefert? Wird die Geschichte sie an den Tag bringen? – die Antwort des Erzählers könnte desillusionierender kaum sein: Nein. „Die Geschichte wird es nicht an den Tag bringen, wenigstens nicht in der eigentlichen, üblichen Art.“

Heiko Voss

Fotos: Paul Leclaire