„Es übersteigt einfach alles. Nichts, was mir bekannt ist, reicht an es heran.“ – „An äußerstem Schrecken?“ – „An schaurigem – Grauen! An unheimlicher Grässlichkeit, an Grauen und Qual.“ Die Ankündigung des Erzählers könnte drastischer kaum sein: Ein Achtungszeichen an alle Zuhörenden! Die Geschichte, die gleich erklingen wird, ist abgründiger als alles, was den Lebenden jemals zu Ohren gekommen ist! Sie handelt von…? Ja… wovon handelt die Geschichte eigentlich?
Ohne es explizit auszusprechen, verweisen schon die einleitenden Worte auf das Prinzip des Erzählens in Henry James’ Novelle THE TURN OF THE SCREW: Ja, es wird eine ganz konkrete Geschichte erzählt, die noch dazu auf der Niederschrift einer direkt betroffenen Person beruht – die Geschichte einer jungen, unerfahrenen Gouvernante, die sich auf dem bilderbuchhaften Landsitz Bly der Erziehung und dem Wohlergehen der elternlosen Kinder Flora und Miles annehmen soll. Doch von dieser Geschichte wird mehr zu erfahren sein, als was den Lebenden unmittelbar ins Auge springt. Die Dinge liegen im Verborgenen. Sind die kleinen, engelhaften Wesen tatsächlich so unbeschwert und unbedarft wie sie auf den ersten Blick erscheinen? Oder gibt es da etwas, wovon wir nicht einmal die leiseste Ahnung haben? Anzeichen von Übernatürlichem? Von sexuellen Verfehlungen, von der Herrschaft des Verbotenen, vom Untergang der Geborgenheit, von der Faszination am Abgrund, von Macht, Gewalt und Missbrauch? Gab es in der Vergangenheit Übergriffe, ausgeübt durch ehemalige Bedienstete, von denen man sich keine Vorstellung macht? Und ragt die Tragweite dieser Taten bis weit in die Gegenwart von Bly? Das Grauen, das der Erzähler ankündigt, besteht vor allem darin, dass es nicht festzumachen ist, dass es nicht benannt und damit nicht in die Realität der Erzählung überführt werden kann. Dennoch oder gerade deshalb ist es bereits mit den ersten Sätzen omnipräsent. In dieser Geschichte existiert etwas, das es nach rationalen Gesichtspunkten nicht gibt. Nicht geben kann. Und dennoch ist es da. Ebenso wie der Tod. Für die Lebenden ist die Geschichte eine Horrorgeschichte.
Alle Annahmen, alle Befürchtungen beruhen allein auf Momenten des bloßen Verdachts – auf Verdachtsmomenten, die sich verdichten, entkräften und wieder neu zusammenziehen. Sorgsam sind sie in die Erzählung gestreut und entfalten nach und nach ihre bedrohlich-unaufhaltsame Wirkung. Doch sie zielen nicht in dieselbe Richtung. Ambiguität und Vieldeutigkeit sind die Kennzeichen der Erzählung THE TURN OF THE SCREW. Eine Deutungshoheit wird regelrecht verweigert. Immer wieder widersprechen sich die feinsäuberlich zusammengetragenen Indizien, um wieder eine gänzlich neue Richtung vorzugeben. Sicheren Grund und Boden wird man auf ganz Bly vergeblich suchen.
Henry Jamesʼ Novelle ist eine der vieldeutigsten Erzählungen der Literaturgeschichte. Bis in die letzten Verästelungen der Geschichte existiert eine Vielzahl an Interpretationen, von denen jede möglich ist, jedoch keine als gesichert gelten darf. Dies beruht auf der meisterhaften literarischen Komposition der Novelle von Henry James, für die Britten größte Bewunderung empfunden hat. Für die Bühnenadaption haben der Komponist und seine Librettistin Myfanwy Piper die Vieldeutigkeit der Geistergeschichte nicht angetastet, sondern lediglich Veränderungen nach den spezifischen Erfordernissen der Theaterbühne vorgenommen. Keine Antworten! – so die Devise von Britten und Piper. Entstanden ist ein ebenso meisterhaft komponiertes Musiktheaterwerk, das der schillernden Faszinationskraft der literarischen Vorlage in nichts nachsteht. Und so ergibt sich der seltene Fall, dass sich trotz zahlreicher Änderungen in der Werkgestalt das Interpretationsfeld zwischen Vorlage und Bühnenumsetzung kaum verändert hat, dass die Interpretationsmöglichkeiten, die man für die Novelle formuliert, auch auf das Musiktheater anzuwenden sind und umgekehrt.
Eine ganz grundlegende Veränderung gibt es aber doch: Britten und Piper geben den eigentlich wortlosen Geistererscheinungen eine eigene musikalische Sprache und damit eine sinnlich erfahrbare Ausdrucksfähigkeit, die ihnen in der Novelle nicht zukommt. Selbstredend ist es für den Komponisten von großem Reiz, gerade die übernatürlichen Figuren mit einer spezifisch musikalischen Sprache auszustatten – und wo könnten die faszinierend-verführerischen Untoten die Sinne ihrer menschlichen Umgebung besser benebeln als auf dem musikalischen Theater? Es bleibt dennoch zu untersuchen, ob diese Veränderung es vermag, ein wenig mehr Deutbarkeit in eine undeutliche Geschichte hineinzugeben.
Unter den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der Novelle wie der Oper schälen sich bei genauerem Hinsehen drei Hauptstränge (I, II, III) heraus. Die Stoßrichtung der Lesart macht sich dabei grundsätzlich am Realitätsgehalt der Geistererscheinungen fest: Sind die Geister lediglich Einbildungen und Projektionen einer oder mehrerer Figuren oder sind sie für die gegenständliche Welt der Figuren tatsächlich existent? Anders formuliert: Sind die Geister ein Teil der Bühnenrealität oder nicht? Gibt es die Geister wirklich oder sind sie bloße Einbildung?
Der Fragenkatalog ist lang, die Opfer sind immer die Kinder – ungeschützt, in verheerendem Umfeld. Der letzte Blick richtet sich auf den demonstrativ abwesenden, ominösen Onkel, Auftraggeber der Gouvernante und mit der Fürsorgepflicht für die Kinder betraut. Alle sind sie von ihm abhängig: Flora, Miles, die Gouvernante, die Haushälterin. Die einen ertragen sein Desinteresse stoisch, die anderen ringen um seine Aufmerksamkeit. Nimmt man noch einmal die nötige Distanz und die (toten wie lebenden) Bewohner von Bly unter die Lupe, könnte sich fast der Eindruck aufdrängen, der namenlose Onkel veranstalte dort Experiment um Experiment, indem er auf das Landgut völlig ungeeignetes und labiles Personal schickt. Die Kinder sind dort psychischen wie physischen Übergriffen hilflos ausgesetzt, niemand sieht nach ihnen. Vielmehr wird weggesehen. Mrs. Grose hat sich – darf man ihren Äußerungen Glauben schenken – schon lange vor Beginn der eigentlichen Geschichte im Wegsehen geübt. Oder ist gerade sie es, die so genau hinsieht wie sonst niemand? Wie viel weiß sie über die tatsächlichen Vergehen? Wem hat sie davon erzählt? Mit wem tauscht sie sich aus? Wo besteht ein Interesse an kindlich-seelischem Leid? In der Anonymität des Dark Net? Ist das Geschehene dokumentiert? Von wem wird das Ganze gesteuert? Zugegeben: Die Fragen entfernen sich allmählich aus dem Schutzraum der Erzählung. Doch die Kinder sind auch nicht beschützt. Und die Fragen traurigerweise längst nicht abstrus genug, um sie einfach wegzuwischen. Der Sachverhalt ist alles andere als eindeutig. Und es ist besser, zu viele Fragen zu stellen als zu wenige:
Ein Fragezeichen für alle Zuhörenden! Die Geschichte, die gleich erklingen wird, ist zweifelhafter als alles, was den Lebenden jemals zu Ohren gekommen ist: „Die Geschichte wird es an den Tag bringen.“ Was? – die schaurigen Untiefen? Ja. Und die ersehnten Antworten? Werden sie von der Geschichte mitgeliefert? Wird die Geschichte sie an den Tag bringen? – die Antwort des Erzählers könnte desillusionierender kaum sein: Nein. „Die Geschichte wird es nicht an den Tag bringen, wenigstens nicht in der eigentlichen, üblichen Art.“
Heiko Voss
Fotos: Paul Leclaire