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Buehnenfoto Weltenbauer

Mit DER TEMPELHERR. EIN ERBAUUNGSSTÜCK wird dem Freiburger Publikum nicht nur das jüngste Stück, sondern auch zum ersten Mal überhaupt ein Werk des Österreichers Ferdinand Schmalz vorgestellt. Schmalz ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Dramatiker, der u. a. im Jahr 2017 mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Der Autor begeistert Kritiker_innen, Theaterschaffende und Publikum mit seiner Komik, den philosophischen Fragestellungen seiner Werke, aber vor allem mit seinem hochartifiziellen wie volkstheatralen Spracherfindungsreichtum: Durch seine ungewöhnliche Satzbauweise, durch die Überhöhung und Rhythmisierung von Sprache hören die Zuschauer_innen automatisch anders zu. Das Theater soll für Schmalz im besten Fall als „Mikroskop für Sprache“ funktionieren. Es soll hörbar werden, wo „die Sprache fault, wo sie von dem Gift der Demagogen durchsetzt ist“. Der Sprach-Tüftler baut an einer Sprache, in der der Sprach-Klang zum Denken anregt und offenbart gleichzeitig, wie leicht die Sprache verblenden und vor einen „ideologischen Karren“ gespannt werden kann. Seine und unser aller Sprache ist ein Gebilde, an dem wir gemeinsam unaufhörlich bauen.

Im TEMPELHERR baut der Lehrer Heinar, der während des gesamten Stücks nicht zu Wort kommt, zuerst an einem Eigenheim in der ländlichen Idylle. Bald schon läuft sein Bauprojekt aus dem Ruder. Er beginnt mit eigenen Händen einen Tempel, ja, eine ganze Tempelanlage zu errichten. Seine Umgebung – die Dorfbewohner, sein Financier und Schwiegervater, seine Freunde, seine Ehefrau – beobachtet fassungslos den Bauherrn beim Errichten seiner eigenwilligen Schöpfung. Was ihnen verrückt erscheint, ist für Heinar von größter Notwendigkeit: Man müsse da beginnen, wo der Ursprung liegt – des Bauens, des Miteinander Lebens und der Demokratie. Scharenweise kommen Schaulustige zur Tempelbaustelle, viele packen sogar selbst mit an. Eine alternative Gemeinschaft nach antikem Vorbild formiert sich rund um Heinar. Doch lange währt das Glück nicht: Heinars Sohn fällt Ikarus-gleich vom ungesicherten Baugerüst und verletzt sich. Der Vater wird zur Verantwortung gezogen. Nach zwei Jahren Gefängnis kehrt er jedoch nicht geläutert zurück, sondern baut weiter an seinem Vermächtnis, das schließlich zu seinem Mausoleum wird: Von seiner Familie, von Freunden und Anhängern verlassen, verendet er einsam in seinem Tempelhain.

Dieser unerklärliche Drang, dieses Sich-Verlieren in einer Obsession, lässt sofort an die ein oder andere mythologische Figur denken. Tatsächlich webt Schmalz geschickt die Geschichte von Dädalus und Ikarus in seinen Text ein, ohne dabei zeitgenössische Themen und Probleme, wie postmoderne Lebensentwürfe, die Gegensätze Natur - Kultur, Stadt - Provinz und die politische Radikalisierung, die besonders am Land in Erscheinung tritt, zu vernachlässigen. Der TEMPELHERR ist eine Art moderner Mythos, der einen verqueren Aussteiger zum tragischen Helden erhebt. „Mich haben immer diese Aussteigertypen fasziniert, die hinterm Haus an einem Segelschiff gebaut haben und irgendwann damit aufgebrochen sind und bis heute um die Welt segeln. Oder auch Leute, die mit alternativen Lebensformen experimentiert haben, die Kooperationen gründeten und was sie zum Leben brauchten, selber produziert haben“, gesteht Schmalz. Die Lebens- und Gesellschaftsentwürfe dieser Aussteigertypen stellen oft ihre Umgebung vor Rätsel, vor allem aber muss sich diese mit der Gemachtheit ihrer eigenen Lebensform auseinandersetzen: Unerbittlich stellen solche Querdenker die Frage – wie wollen wir leben? woran ist es Wert zu bauen? Und wer entscheidet, was wertvoll oder nützlich ist?

Drei Männer sitzen auf einer Bank
Sie beobachten 2 Frauen
Eine Frau geht eine Leiter hoch
Viele Menschen stehen um eine Frau
Sie beobachten die Frau
Ein Mann und eine Frau schauen ängstlich
Viele Menschen schauen ins Licht
Mehrere Menschen beobachten eine Frau, die auf einem Tisch liegt

Zu Lebzeiten werden diese Visionäre meist als wahnsinnig abgestempelt, posthum wird ihr Schaffen oft zur touristischen Attraktion. So auch im Falle des Bauern Franz Gsellmann (1910–1981), der in der Gemeinde Edelsbach in der Oststeiermark, in seinem Schuppen 23 Jahre lang an einer wundersamen Maschine schraubte und schweißte. Als er seine Kreation, die u. a. aus „einem Christbaumständer, einer holländische Mini-Windmühle, einer Spielzeug-Raumkapsel nebst vier Raumfahrern, einem Porzellan-Adler, einer Trockenhaube, fünf Kruzifixen, fünf Zündkerzen, sieben Lichtmaschinen, 18 Ventilatoren, 20 Keilriemen, je 25 Motoren und Hula-Hoop-Reifen, 64 Vogelpfeifen, 200 Glühlampen und nicht weniger als 242 Silberschrauben“ besteht, nach acht Jahren im Jahr 1968 zum ersten Mal an den Strom anschloss, lag die gesamte Gemeinde im Dunkeln.

Als Gsellmann es nach der ersten Fehlzündung schaffte, die Maschine an das Stromnetz anzuschließen, traute er sich, sie seiner Familie zu zeigen. Die war - wie nicht anders zu erwarten - von dem ratternden, quietschenden und blinkenden Ungeheuer nicht angetan. Die Familienmitglieder drohten gar damit, die Maschine zu zerstören und ihn aus dem Haus zu werfen. Und vielleicht wäre Franz Gsellmann auch einsam gestorben, wenn die Edelsbacher Gerüchteküche dem Bauern nicht zu Ruhm verholfen hätte. Bald kursierten in der ganzen Oststeiermark Erzählungen darüber, was es da auf dem Gsellmannschen Hof zu bestaunen und verspotten gab. Und 1972 erreichten die Geschichten auch die Redaktion des Lokalblattes Kleine Zeitung. Dort erschien der erste Artikel über „Die nutzlose Wundermaschine“, 1973 folgte eine Fernsehdokumentation, 1980 ein Spielfilm. Immer mehr Reporter und Schaulustige kamen, um sich selbst ein Bild von Gsellmanns Maschine zu machen. Mit ihrer Beschreibung taten sich jedoch alle schwer: Als ein „Zufallsgenerator, der Selbstmord begangen hat“, hin zu ein „buntes Allerlei“, ein „Kuriosum“, eine „wundersame Kreation“ oder schlicht ein „Gebilde“, versuchten unterschiedliche Medien Gsellmanns Werk zu deuten. Ein Kärntner Landeshauptmann hat ihr schließlich ihren Namen gegeben: Gsellmanns Weltmaschine. Heute zieht das Spektakel in der Scheune rund 10.000 Menschen jährlich an. Die Weltmaschine ist damit einer der größten Touristenmagnete der Region.

Was genau die Maschine nun darstellen sollte, ob Kunst, Technik in Reinform, oder gar ein Altar, darüber verlor Franz Gsellmann nie ein Wort.

sous le palais
animals palais ideal
facade west palais ideal
le palais ideal face sud
palais ideal du facteur cheval
palais ideal du facteur cheval
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sous le palais
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palais ideal du facteur cheval
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palais ideal du facteur cheval

Ähnlich welthaltig ist das im südfranzösischen Örtchen Hauterives gelegene Palais idéal des Postboten Ferdinand Cheval (1826–1924). Der Landbriefträger tagträumte auf seinen Botengängen von einem Märchenpalast, von einem „Palast der Imagination“. Inspiriert wurden diese Träume von Postkartenmotiven, auf denen er Architektur antiker Zeiten und ferner Länder bestaunte. Er begann Steine am Wegesrand aufzusammeln und in jahrzehntelanger Arbeit mit diesen Steinen eigenhändig (und ohne handwerkliche Ausbildung) an seinem Palast zu bauen, der immer mehr zu einem Sakralbau wurde, zu etwas, was er dem Tod entgegenhalten könnte, was ihn überdauern würde: sein eigenes Denk- und Grabmal. Unterirdisch baute er eine ägyptische Grabstätte, in der er „wie die Pharaonen“ bestattet werden wollte. Überirdisch wuchsen immer neue, opulent dekorierte Zimmer, Säle und Grotten zu einem riesigen Kunstwerk: eine „Höhle der Jungfrau Maria“, ein „Hindutempel“, eine „Moschee“, Miniaturburgen, eine Aussichtsplattform und „Säulen nach Art der Berber“. 33 Jahre lang, von 1879 bis 1912, baute er, verspottet und schikaniert von der Bevölkerung, an seinem Vermächtnis, das jedoch nicht zu seiner Grabstätte wurde. Dafür erhielt er keine Genehmigung, weshalb er auf dem Friedhof von Hauterives im hohen Alter noch sein Grabmal errichtete. Über die Bedeutung, die seine Bauwerke erlangen würden, war er sich nicht bewusst: Zuerst galten diese als Skurrilität, dann aber feierten die Surrealisten Cheval als ihren Vorläufer, André Breton widmete ihm ein Gedicht und Max Ernst eine Collage. Auch Picasso reiste mehrfach an, um den Palast zu studieren. Dies trug wohl dazu bei, dass das Palais 1969 zum Kunstdenkmal erklärt wurde. Inzwischen zieht das Palais idéal jährlich mehr als hunderttausend Besucher_innen an.

Ferdinand Schmalz’ Tempelherr Heinar, ein Burnout-gefährdeter Lehrer ohne Bauerfahrung, lässt sich nahtlos in die Auflistung dieser Weltenbauer einfügen – mit dem Unterschied, dass es sich um eine fiktionale Gestalt handelt. Aber gerade bei diesen außergewöhnlichen, aus der Norm fallenden Menschen, spielt die Fremd- und Selbsterzählung, die Fiktion, eine große Rolle. Diese Querdenker können oft keine eindeutigen Beweggründe, keine befriedigende Erklärung für ihr Tun liefern. Deshalb versuchen wir, die Lücken mit unserer Imagination zu füllen und bauen mit an dem Mythos, der diese Menschen umgibt. Wir erzählen ihre Geschichten, die uns faszinieren und inspirieren, ebenso wie wir auch unser eigenes Leben als Geschichte erzählen, die wir dann selber glauben: wir erzählen. / erzählen unsere geschichten. / immer wieder. / bis wir sie selber glauben. / immer wieder, / dieselben geschichten. / bis wir sie unser leben nennen. / bauen die mythen unsrer selbst, / bauen wir ein in diese konstruktion, / die unser leben darstellt. / wie säulen / tragen uns diese geschichten. / die einen tragfähiger als andere. / kosmen. schmuck und bauträger zugleich. / das fundament reine fiktion. / das müssen wir, / von zeit zu zeit, / müssen wir uns das vor augen halten. / dass all das, was für solides mauerwerk / was wir für grundfesten unserer existenz doch halten, / all das sind nur geschichten. Diese Erkenntnis formulieren die Figuren um den verstummten Heinar im TEMPELHERR. Virtuos mutmaßen sie über dessen Beweggründe, lassen Heinars verstörende Äußerungen in Berichten, Rückblenden und Poesie Revue passieren, woraus sich ein facettenreiches Bild vom Tempelherrn ergibt: ein Mythos.

Anna Gojer

Quellen:
Andrea Heinz: DER SPRACHTÜFTLER. In: THEATER DER AUTOR_INNEN. Magazin 18/19. Hg: Deutsches Theater Berlin.
Koepp: EIN ERBAUUNGSSTÜCK. SECHS FRAGEN AN DEN AUTOR FERDINAND SCHMALZ. In: Programmheft, Spielzeit 18/19. Hg: Deutsches Theater Berlin.
Ariane Stürmer: ABSURDES KUNSTWERK. Link: https://www.spiegel.de/geschichte/absurdes-kunstwerk-a-948007.html
Danny Kringiel: DER PALAST DES POSTBOTEN.

Fotos: Marc Doradzillo