Das ist Falstaff. Strotzend vor Kraft und mit einem bemerkenswerten Selbstwertgefühl ausgestattet, kann man getrost davon ausgehen, dass dieser Mann nicht zimperlich ist, wenn es darum geht, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. So ist er das jedenfalls gewohnt, den Blick fest auf das Objekt seiner Begierde gerichtet.
Noch einmal Falstaff – ein Abenteuer und eine Abreibung später. Die Wut über die Niederlage muss er irgendwie loswerden. Warum also nicht einfach einmal hemmungslos in die Schmutzwäsche der anderen treten? Doch wie konnte es so weit kommen?
Hat sich Falstaff ein kleines Abenteuer zu viel gegönnt? Sich zu weit vorgewagt? Denn Falstaff ist auch: leichtgläubig und risikobereit – Charmeur, Aufreißer und Schwerenöter. Dieses Mal ist er wohl an die Falsche geraten. Namentlich an Alice. Hier ist ihm ein Fauxpas unterlaufen.
Der Brief? Der Brief, über den sich Alice so sehr gefreut hat? Der Brief, der einen kleinen Korridor der Wertschätzung in Alices trostloses Leben geschlagen hat?
Alice lebt in einer Umgebung, in der wirkliche Begegnungen selten geworden sind. Falstaff dagegen ist eine wirkliche Begegnung. Oder: eine Begegnung mit dem wirklichen Leben. Da kann das Herz schon einmal kurzzeitig höher schlagen.
Wo bisher Ausflüchte in Welten jenseits des festgefügten Mauerwerks zur dringlichen Notwendigkeit geworden sind, verkehren sich urplötzlich die Vorzeichen. In einer Welt, in der allein für Töchterchen Nannetta und Fenton noch Lichtstreifen für intime Momente zu finden waren, in einer Welt, in der allen anderen nur der Blick in die Sehnsuchtsschränke bleibt, erscheint für Alice auf einmal: Falstaff.
Ein Aufleuchten, das dem Ehegatten und Kontrollmenschen Ford überhaupt nicht gefällt …
… auch wenn er nicht die geringste Ahnung davon hat, wie weit Falstaff zu gehen bereit ist.
Von jetzt an ist Falstaff nicht mehr loszubekommen, auch wenn die Damen ihn längst nicht mehr im Hause haben wollen und alles daran setzen, ihn aus ihrem Lebensraum zu verbannen.
Und das alles wegen eines einzelnen Briefes? Nein. Es gibt zwei. Gleichen Inhalts, gleichen Wortlauts, aber mit einer anderen Anrede: Liebe Alice, liebe Meg. Wie kann das sein? Wen meint Falstaff mit seinen Liebesschwüren?
Falstaff ist auf der Suche. Nicht unbedingt nach der einen Frau, nicht einmal unbedingt nach dem dringend benötigten Geld, sondern eher auf der Suche nach einem Gefühl: dem Gefühl der Freiheit, Leichtigkeit und Schwerelosigkeit. Es gab eine Zeit, da hat er das einmal verkörpert.
Doch Falstaff ist aus der Zeit gefallen. Seine Annäherungsversuche sind nicht mehr so leichtfüßig wie einstmals – und die Sicherheitsvorkehrungen sind allemal schärfer geworden. Nicht nur Ford, sondern die gesamte Nachbarschaft ist überzeugt, dass Falstaffs Unwesen ein Ende bereitet werden muss.
Vor der offenkundigen Gefahr kann Falstaff im letzten Moment flüchten. Doch was, wenn er in eine dunkle Falle gelockt wird? In einen Kellerraum, dem er nicht mehr entkommt, bis sich sämtlich aufgestaute Aggressionen entladen haben?
… an einen Ort völligen Ausgeliefertseins, in dem sich alle sadistischen Triebe ungehindert Bahn brechen…
… an einen Ort, an dem alle Gesetze des humanen Miteinanders aufgehoben sind und an dem schlussendlich in der Manier eines Ringkampfes entschieden wird, wer obenauf ist – und wer den Kürzeren zieht!
Falstaff ist entsetzt. Entsetzt über so viel Maskerade, Heuchelei und so viel Geschmacklosigkeit. Noch mehr allerdings über die Demaskierung und die völlige Entblößung seiner Gegenspieler. Falstaff ist immer unmaskiert. Er spielt mit offenen Karten. Seinen Gegnern ist das herzlich egal.
Oder hat sich Falstaffs eigene Gewaltbereitschaft zu seinen Ungunsten ausgewirkt?
Falstaff ist in der Unterzahl. Ihm gegenüber steht eine große Zahl an erstarrten Würdenträgern, die jede Gelegenheit nutzen, die Herrschaftsverhältnisse klar zu demonstieren. Na ja, fast jede Gelegenheit.
Im Zweifelsfall steht Falstaff gegen alle. Auch mit seinen Ansichten. Für die Poesie im Leben müssen mit Falstaffs Ausscheiden andere sorgen. Steht bereits jemand in den Startlöchern?
Vielleicht. Das junge Liebespaar hat sich fern der Querelen und Grabenkämpfe längst für eine andere Form der Zuneigung und Nähe ins Zeug geworfen – und hat sich bereits bestens in den Liebesfilm-Lichtstreifen positioniert. Nannetta und Fenton wollen ihr eigenes Lied von der Liebe in die Welt hinaustragen.
Insofern schrabbt die Geschichte eben nur scheinbar an der Love-Story vorbei. Es gibt sie, die Love-Story. Wir müssen nur die Schränke weit aufmachen, dass sie nicht sogleich im Keim zu ersticken droht.
Heiko Voss
Fotos: Paul Leclaire